Dienstag, 24. August 2010

Vollmond-Kino

Kino ist nicht das Leben. Es tut nur so. Und ganz manchmal ist es wirklich so. Heute Abend ist wieder Vollmond. Da kommen besonders viele Irre raus, sagt man. Aus erster Hand bestätigen kann ich das nicht, aber meine Sicht der Dinge ist in dieser Beziehung vielleicht auch etwas unscharf. Jedenfalls wäre so eine Vollmondnacht ein Anlass, sich mal wieder „Shining“ reinzuziehen, oder „“Einer flog übers Kuckucksnest“. Aber nein, ich nehm mir den amerikanischen Film „Girl, interrupted“ vor, der in Deutschland den marktschreierischen BILD-übertrifft-SAT1-Aufmacher-Titel „Durchgeknallt“ trägt. Da geht es um Momentaufnahmen, die dem Tagebuch von Susanna Kaysen (Winona Ryder) entstammen, die zu diesem Zeitpunkt, Ende der Sechziger, gerade ihren Highschool Abschluss gemacht hatte. Statt über ihre Zukunft rumzugrübeln, mixt sie sich einen eins-zu-eins Beinahe-Killer-Cocktail aus einer Flasche Aspirin und einer Flasche Vodka. Wer so was macht, kann ja nur verrückt sein, und die fürsorglichen Eltern erreichen durch freundliche Überredung und sanften Druck, dass sich Tochter Susanna selbst in eine psychiatrische Klinik einweist. Keine der staatlichen Verwahranstalten, wo nicht therapiert wird, und wo die Insassen verwaltet und gefüttert werden. Nein, Claymoore ist schon eher ein Ponyhof. Das heißt nicht, dass die anderen Insassen nicht veritable Irre sind. Das sind sie auf alle Fälle, gut sortiert in allen Erscheinungsformen. Da ist für jeden was dabei. Susanna wird offiziell mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Die gütige Schwester Valerie (Whoopie Goldberg, mit Hammer-Afro) hat alles und Alle im Griff, und sie bescheinigt Susanna die Faulheit und Zügellosigkeit eines kleinen Mädchens, das sich nur selbst in den Wahnsinn treibt. „Schlag hier keine Wurzeln“ sagt sie ihr.
Nurse Valerie hat alles gesehen und weiß, dass man schnell in den institutionalen Mühlen zerdengelt wird, denn dieses Getriebe läuft wie geschmiert.
Aber erst mal fühlt Susanna sich gut aufgehoben in Claymoore. Täglich kritzelt sie Notizen in ihr Tagebuch über die anderen Bewohner. Das Brandopfer Polly (gespielt von der damals 17-jährigen Elisabeth Moss, die später eine der Hauptrollen in der Serie „Mad Men“ hatte), die schwerst verwirrte und misshandelte Daisy (Brittany Murphy, die vor knapp einem Jahr starb), die Hähnchenreste aus der Bräterei ihres übergriffigen Vaters unterm Bett und im Schrank versteckt. Und da ist die wirklich total durchgeknallte Lisa (Angelina Jolie), die ihre Diagnose: „criminally insane“ wie eine Monstranz vor sich her schaukelt und immer frontal auf Crash Kurs operiert. Lisa gibt die coole Sau, aber man ahnt schon die innere Zerrissenheit, ihre Wunden. Sie ist obercool, scheint sogar kalt und gefühllos, und auf der Beliebtheitsskala der anderen verhaltenstechnisch geforderten Bewohner rangiert sie sehr weit unten. Unterhalb von unten.
Ich sag’s gleich, Jolie hat für diese Rolle einen Oscar für „best supporting actress“ bekommen, und ich hab mich die ganze zeit gefragt, warum. Die meiste Zeit schaut sie finster und mürrisch, wirft ihren wundenlippigen Mund über die untere Gesichtspartie und lässt verbale Hässlichkeiten rausquellen. Sie sieht viel zu alt, grau und abgewrackt aus für diese junge Frau, die sie darstellen soll. Ryder kuckt eher wie ein verstörtes aber kluges Rehkitz, die anderen halt wie die ganz normalen Nachbarschaftsirren. Manche sagen, Ryder hätte den Oscar für die beste Hauptrolle bekommen sollen. Ich sag das nicht. Eigentlich hätte ihn in diesem Film niemand bekommen müssen.
Die Geschichte wird in Episoden erzählt, und das ist ja auch nicht abwegig, denn er ist nach einem echten Tagebuch von der echten Susanna Kaysen inszeniert und umgesetzt worden, und da ist nichts gegen einzuwenden. Durch Verkettung mehrerer Schocker-Events dramatiert er etwas zäh dahin. Von einem Hype zum anderen. Es wird gevögelt, geschockt, gehauen, geselbstmordet. Wie im richtigen Leben. Auch das passt zur Thematik, und der Film ist ja auch als Drama angelegt. Das Blöde ist, dass es dann am Ende nur noch Melodram ist. Und auch darüber darf ich nicht meckern, denn wenn die richtige, echte und einzig wahre Susanna Kaysen das so erlebt hat, dann musste es so sein. Schließlich ist das ihr Leben, sie hat’s so erlebt, und sie wollte das so. Es ist dann die Aufgabe eines Regisseurs (James Mangold), da etwas mehr Farbe und Kontinuität reinzubringen.
Was mich gegen den Strich gebürstet hat, war, dass man ja immer wusste, dass Susanna eben nicht verrückt war. Dass sie sich aufgrund ihrer gegenwärtigen Lebensumstände in Claymoore wohl fühlte, und dass sie die Irrizität der anderen Bewohner zu ihrer Normalität machte.
Ihre Ambivalenz ist ihr großes Thema, und die Hauspsychiaterin Dr. Wick (Vanessa Redgrave, großartig wie immer, sie kann gar nicht anders) argumentiert sanft aber gerne nicht nur zu diesem Thema, auch zu Susannas Promiskuität, zum Sex allgemein und im Besonderen. Sie rückt ihr den vermeintlich irren Kopf grade.
Susanna wendet sich letztendlich auch von ihrem Freund Toby (Jared Leto) ab, der dem Ruf der Army mit der Flucht nach Kanada entkommen will. Zusammen mit Susanna. Aber Susanna will nicht mehr. Sie würde wohl gerne in Claymoore vor Anker gehen, wovor ja die gütige Valerie von Anfang an gewarnt hatte. Nur ein kleines bisschen irre zu sein in so einer Einrichtung lässt sich aushalten: Unter den Blinden ist der Einäugige König.
Das Ende ist nicht wirklich happy, aber auch nicht direkt niederschmetternd. Es ist ein „so isses eben“ Ende.
Für mich wär etwas weniger Melo und mehr Dram befriedigender gewesen und etwas mehr plot hätte auch sein dürfen. Aber um meine Wünsche geht’s hier nicht, und auf mich hört eh keiner.
„Girl, interrupted“ war kein Kassenerfolg und verschwand auch bald in der Versenkung. Vielleicht zu Recht.
Das alles hindert mich aber nicht daran, den Film ziemlich spannend zu finden. Und irgendwann während der letzten 20 Minuten, lief Jolie noch zu Hochform auf. Da gibt ein show-down zwischen Susanna und Lisa, und das ist für mich „the saving grace“ des Films. Das hab ich dann auch zwei- dreimal zurückgespult zum nachkucken, -hören und –sehen, und für ein paar Minuten dachte ich, ja, da kann man schon einen Oscar zumindest in Erwägung ziehen.
Ob das alles nun schlüssig war oder nicht, etwas schlaff im Abgang war „Girl, interrupted“ leider doch. Da hat Mr. Mangold vielleicht das „interrupted“ bei der Inszenierung etwas zu wörtlich genommen.
Aber ansehen kann man sich den Film trotzdem. Gute Besetzung und durchweg gut gespielt.
Und so ein bisschen Irrizität zum Vollmond, warum eigentlich nicht?