Sonntag, 14. Februar 2010

Über das Sprechen und das Schweigen

 
Es wird so viel geredet. Von rechts und links wird man zugeschwallt. Es redet, redet, redet. Unwichtige und belanglose Dinge. Die Luft wabert und flirrt von den Stimmen, die unablässig murmelnd an meine Ohren, in meine Ohren (und mit Glück auch mal daran vorbei) flattern. Einen Ohrenfilter wünsche ich mir, der, noch bevor die Geräusche mein Hirn als Worte und Sätze erreichen, den Müll rausfiltert. Ich bilde mir ein, wenn ich nur noch essentielle Nachrichten hören kann, wird es mir besser gehen. Aber das ist sicher nur eine Illusion, ein Wunschtraum.
Es fällt mir immer öfter auf, dass manche Menschen, die wirklich etwas zu sagen haben, lieber stillschweigen. Sie sprechen nicht mehr. Sie bergen Geheimnisse in ihren Herzen und ihren Köpfen, die sie nicht mehr rauslassen wollen. Oder können. Das sind die Alten, die nach und nach sterben. Zeugen einer Zeit, die bereits für die meisten von uns Geschichte ist. Unsere Großeltern sind das, die aufgehört haben, zu erzählen. Aus Angst, aus Schmerz, aus Scham, aus Feigheit, aus Stolz. Bald werden sie alle tot sein und mit ihnen sterben die nicht erzählten Geschichten.
Über meine Familie hatte ich schreiben wollen. Eine sehr große, kunterbunte Familie mit einer kunterbunten, abenteuerlichen Geschichte. Geschichten. Meine Oma und Uroma, das Öhmchen, wussten sie alle. Sie unterhielten sich manchmal flüsternd, wenn sie dachten, ich hör nicht zu. Aber ich hatte meine Ohren überall und bekniete sie, mir alles zu erzählen. Mehr. Einzelheiten. Damals sagten sie das, was sie auch heute noch den Kindern sagen: wenn du älter bist, du bist noch zu klein, du verstehst das noch nicht. Später sagten sie nichts mehr. Sie waren verstummt. Sie wollten nicht mehr über ihre Erlebnisse sprechen. Meine Oma hatte diese Angst, die wie eine chronische Krankheit immer wieder ausbrach. Sie sagte: „Der Hitler ist ja wohl weg, aber die Anderen, die sind noch da. Da bin ich lieber vorsichtig“. Wer „die Anderen“ waren, wollte sie nicht sagen. Als ich sie damals überredete, nein zwang, sich mit mir „Shoah“ anzusehen, ging sie nach einer halben Stunde weinend aus dem Zimmer und wurde noch stummer. Sie ist gestorben als sie über 90 war, mit ihrer Angst und mit ihren Geheimnissen in ihrem Herzen und in ihrer Seele.
Knutt Elstermann war erfolgreicher. Er konnte „Gerdas Schweigen“ brechen. Er hat sie in New York aufgesucht und sie dazu gebracht, mit ihm zu sprechen. Über ihre Vergangenheit. Das ist ein Wunder. Vielleicht hat sie es getan, weil seine Großmutter ihm so viel von ihr erzählt hat. Es ist ihr nicht leicht gefallen, und oft hat sie lange gezögert. Sie hat von dem Kind erzählt, das sie im KZ geboren hat, das gestorben ist, von ihrer Flucht, von ihrem neuen Leben in Amerika, dem neuen Kind, einem Sohn, dem sie nie von ihren Erlebnissen erzählt hatte. Also doch Schweigen. Das Schweigen ist auch eine Krankheit.
Man sollte es lesen, dieses Buch, dieses „Gerdas Schweigen“. Ein Buch über das Vergessenwollen und über das Schweigen. Diese schlimme Krankheit, deren Ansteckung ungebremst grassiert, und die letzten Zeitzeugen werden bald gestorben sein. Und alles wird nur noch Geschichte sein. In Büchern nachzulesen, die niemand mehr lesen will. Und es wird für die heute Zwanzigjährigen so weit entfernt und so unreal sein wie für mich die französische Revolution.
Ich hätte so gerne zugehört. Denen, die was zu sagen hatten. Aber es gibt doch noch welche, die sprechen, und es ist nicht zu spät, denen zuzuhören bevor sie auch für immer schweigen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen