Freitag, 21. Oktober 2011

Hundert weniger sieben

Aus Gründen, wie man so sagt, hab ich mich gestern einem Demenztest unterzogen. Im Anschluss an meine jährliche Ganzkörper-Inspektion schien mir das eine logische Entscheidung. Man wird nicht jünger. Nieren, Leber, das ganze Gekröse und das Herz in bester Verfassung, sagt meine neue Ärztin. Das natürlich immer mit dem nun schon Standard-Zusatz: „Für Ihr Alter“ . Dieses Alter liegt inzwischen leicht jenseits dieser berühmten „besten Jahre“. Und weil ich so oft Namen, Buch- und Filmtitel vergesse, weil ich so oft von einem Zimmer ins andere geh, und dann nicht mehr weiß, was ich da will, dacht ich, es wird Zeit, das mal untersuchen zu lassen.
Dr. Menzel, der Testarzt, ist erst mal verwundert, dass ich mit diesem Ansinnen an ihn herantrete, denn als er mich rein ruft, tippe ich grad eine SMS in mein Smartphone. „Ach,“ sagt er „das ist doch toll, dass Sie das noch können!“ Da fühl ich mich gleich besser. Das heißt ja wohl, dass man die Handhabung elektronischen Zauberwerkzeugs „in meinem Alter“ nicht unbedingt erwartet.
Er groß, blond, jung; ich klein, blond... nicht jung. Er mit Brille, ich mit Brille. Aber er hat promoviert. Und sein blond ist echter als meins.
Er blättert in einem umfangreichen Faltblatt, das grob geschätzt an die 20 Seiten Text enthält und erklärt er mir die Vorgehensweise.
Es klingt simpel genug.
Als Erstes bittet er mich, drei Begriffe nachzusprechen. Gebündelt, nicht einzeln, das wäre ja auch zu einfach.
„Auto – Blume – Kerze“
„Auto – Blume – Kerze“
„Sehr schön, bitte noch mal.“
„Auto – Blume – Kerze“
„Wunderbar“ sagt Dr. Menzel.
Ich bin stolz. Die erste Hürde ist geschafft. Ich kann mir drei Wörter merken.
Weiter zum nächsten Punkt: Zahlen! Meine Königsdisziplin.
„Ziehen Sie von der Zahl 100 jeweils die Sieben ab. Also: Einhundert weniger 7...?“
„93“
Er lächelt aufmunternd: „Weiter?“
„Ähm... 7 nee, 86...?“
„Schön... und?“
„Wie, und? Ich dachte, weniger?“
„Jaja, weniger, minus, abziehen“ klingt das schon genervt?
Nachdenken! Heimlich visualisiere ich meine Finger. Ich hab’s:
„97 nein! 79“
Er lächelt wieder. Lächeln heißt richtig geraten. Ich schaffe dann noch zwei, etwas mühsam, aber ohne Zahlendreher, und er ist zufrieden. Er hat meine Zählfinger unter dem Tisch nicht gesehen.
„Welchen Wochentag haben wir heute?“
„Mittwoch...“
Datum, Monat, Jahr - Stadt, Land, Fluss... pillepalle – null problemo.
„Welche Jahreszeit?“
„Herbst!“
Er lächelt, er zieht die Augenbrauen hoch: „Na???“
„Doch, Herbst!“
Will er mich verunsichern?
„Ehm... ja, nee, Moment... wann fängt denn der Herbst an?“
„Am 23. September ... steht das nicht im Blatt?“
„Nein, nein, im Blatt stehen doch keine Antworten! Also, wie war das mit dem Herbst?“
Vielleicht ist er dement?
„Fing am 23. September an - wir sind mittendrin im Herbst, das weiß ich nun ganz genau.“
„Mhh, ach ja, stimmt ja, hahaha. So, Erinnerungsfähigkeit... welche drei Begriffe haben Sie sich eben gemerkt?“
„Auto – Blume – Kerze. Kerze – Blume – Auto... aber fragen Sie mich besser nicht noch mal in einer Stunde...“
„Haha, so lang wird der gesamte Test gar nicht dauern.“
Er blättert auf die nächste Seite und zeigt mir eine fett gedruckte Überschrift, darunter ein kleine Grafik. Es sind zwei geometrische Figuren, die eine Schnittmenge haben. Irgendwas mit –gon, ein Penta oder Octa oder Epi, ich weiß nie, wie die Biester heißen, mehr Seiten als ein Viereck, das seh ich gleich, aber so schnell kann ich nicht zählen. Erinnert mich an die schlimmsten Jahre in der Schule. Geometrie!
„Lesen Sie diesen Satz“ sagt er und hält mir das Blatt vor die Nase:
„Schließen Sie beide Augen“ lese ich vor.
„Machen Sie das“, sagt er. Ich schließe die Augen.
„Öffnen Sie die Augen wieder und zeichnen Sie die Abbildung nach“ sagt er und reicht mir einen Stift. So ein Kasperle-Theater. Ich krakele so flott ich kann, all die Seiten von diesen –gonen, an die ich mich erinnere.
„Jetzt schreiben Sie einen Satz in die Zeile darunter, irgendeinen Satz, was Ihnen grad in den Kopf kommt.“
Ich würde gerne schreiben: „Ich fühle mich verarscht“, bewahre aber Contenance und schreibe einfallslos: „Ich sehe zwei überlappende geometrische Figuren, an deren korrekte Bezeichnung ich mich nicht erinnere.“
Er liest und sagt: „Das ist eher.... hmmm... ungewöhnlich. Die meisten Frauen in Ihrem Alter (das schon wieder) schreiben, was sie am Mittag kochen wollen... hahaha.“ Er will sich ausschütten vor Lachen. Na, freut mich doch, wenn ich ihn damit bespaßen kann.
Oder macht er sich über mich lustig, und ich merk’s gar nicht?
Jetzt einige Fragen zum Alltag und meinen praktischen Fähigkeiten. Alles im grasgrünen Bereich: Einkaufen, Kochen, Putzen. Bei Putzen nicke ich auch eifrig. Er will ja nur wissen, ob ich es kann, nicht, ob ich es mache. Weiter mit Kontinenz: die Entsorgungsorgane etc. jaja, auch alles unter Kontrolle, danke der Nachfrage.
„Jetzt kommt der up-and-go Test. Setzen Sie sich auf den Hocker an der Wand. Dann stehen Sie auf, gehen zum Fenster, berühren die Scheibe und gehen wieder zurück, und hinsetzen.“
Ich frage mich, ob es hier um Schnelligkeit geht oder eher um Treffsicherheit bei der Scheibenberührung, oder dass ich das Fenster überhaupt finde. Jedenfalls spring ich auf wie ein angeschossenes Reh, und in 10 Sekunden bin ich hin und zurück, stolz auf meine Behändigkeit und blicke ihn erwartungsvoll an.
„Ja, klappt ja prima. Das war’s dann...“
“Wie jetzt, das war’s dann... mehr ist da nicht?“
„Nein, das war’s.“
„Ich weiß aber inzwischen nur noch Blume und Kerze...“
„Haha, das macht nichts, das ist normal...“
„Ich hatte mehr erwartet, intensiver, mehr in die Tiefe, detaillierter, anspruchsvoller.“ „Aber nein,“ beruhigt er mich, „zu mehr besteht kein Anlass.“
Ich berichte ihm daraufhin noch von meinen Wortfindungsstörungen, und dass ich immer Straßennamen oder Orte vergesse. Er winkt ab, auch das wäre normal, sagt er. Ich beschreibe eine typische Situation, wenn mir von jetzt auf gleich ein Wort, eine Idee, ein Gedankenblitz aus meinem Hirn abhanden kommt.
Weg - futschikato.
„Nein, nein", beruhigt er mich, "sorgen Sie sich nicht, das passiert allen, auch viel Jüngeren“, das ist tröstlich, glaub ich.
„Wenn das so ist, kann ich ja auch ab und zu einen Test im Internet machen, oder in der „Brigitte“.
„Ja, wir gehen mit diesem Test hier nicht so in die Tiefe, wissen Sie, aber Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen. Sie sind Lichtjahre davon entfernt, dement zu werden.“
Na denn.
Aber - hab ich denn noch Lichtjahre?

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